Rußland - Mittelasien: Ein neues Beziehungsmodell
von Wassili Subkow,
Beobachter bei der RIA „Nowosti”.

 

Rußland ist bestrebt, in der mittelasiatischen Region die Führungsrolle, die es hier im Laufe von zwei Jahrhunderten gespielt hat, wiederzugewinnen. Dieses Streben wird durch einige sehr wesentliche Faktoren gefördert.

Zum ersten sind das die potentielle Bedrohung seiner Sicherheit, die von der Region ausgeht und/oder reale Verluste, seien es wirtschaftliche oder politische. Zum zweiten hat sich in Mittel- und Zentralasien die geopolitische Situation mit dem Erscheinen amerikanischer Militärs von Grund auf verändert. Wenn auch Washington von einer zeitweiligen Präsenz redet, sind die Amerikaner auf lange hierher gekommen. Eine Bestätigung dafür liefern nicht nur die Verträge über die strategische Partnerschaft mit sowjetischen Ex-Republiken, wie Usbekistan, und über Militärstützpunkte, beispielsweise in Kirgisien, sondern auch die erheblichen finanziellen Infusionen und noch freigebigere Versprechungen für die Zukunft  - allein Taschkent wurden acht Milliarden US-Dollar in Aussicht gestellt. Zum dritten hat Moskau einen günstigen Moment für seine Friedensoffensive gewählt. Washington hat sich in Irak festgefahren. Die Antiterroroperation in Afghanistan leidet wegen der ergebnislosen Jagd nach Gespenstern unter Apathie. Nebenbei gesagt, ist sie den Russen aus ihrem eigenen Afghanistan-Krieg gut bekannt.

Wie könnte eine Rangliste der Bedrohungen für Rußland durch die sowjetischen Ex-Republiken, heute unabhängigen mittelasiatischen Staaten aussehen?

  1. Die USA, die Türkei, China, Japan und andere Länder erhalten immer größeren Zugang zu den Ressourcen der Bergregionen des Pamir und des Tienschan, vor allem Gold, Silber, Hydroenergetik, Seltenerd-, Bunt- und Polymetalle, Baumwolle, die immer zum Bereich der strategischen Interessen Rußlands gehört haben. Die amerikanischen Gesellschaften kontrollieren bereits 70 Prozent des kasachischen Erdölsektors. Sehr empfindlich hat die Textilindustrie Rußlands, die traditionell an die mittelasiatische Baumwolle gebunden war, der verminderte Lieferungsumfang aus der Region getroffen.

  2. Die mit Moskau formell verbündeten Staaten Kirgisien, Usbekistan, Kasachstan, Tadshikistan und Turkmenien zeigen ganz offensichtliches Interesse an einer Erweiterung der wirtschaftlichen Präsenz der USA, Chinas, Pakistans und der Türkei in ihren Ländern. Davon zeugen nicht nur die Zunahme des Außenhandelsumsatzes und der Investitionen, sondern auch die realisierten oder vorgesehenen Projekte für Erdgas- und Ölleitungen, Autostraßen und Eisenbahnen. Diese Aktivitäten berauben Rußland vieler strategischer Perspektiven in der Region.

  3. Der um das Vielfache ansteigende Drogenverbrauch in Rußland ist auf die offenen asiatischen Grenzen und die Niedrigpreise für mittelasiatische und afghanische Drogen zurückzuführen. Rußland hat aufgehört, lediglich Transitgebiet zu sein und zählt jetzt zu den Verbraucherländern von schweren Drogen, das heißt Heroin und synthesisierte Drogen.

  4. Im Wolga- und Ural-Gebiet können unter dem Einfluß Mittelasiens extremistische islamistische Organisationen entstehen. Die Propaganda arabischer, tschetschenischer und anderer religöser Vertreter in dieser Richtung hatte bisher keinen sonderlichen Erfolg wegen der traditionellen Antipathie, aber weder in Baschkirien, noch in Tatarstan gibt es eine Antipathie gegenüber den Usbeken und Kasachen, wenngleich sie ebenfalls in arabischen Ländern ausgebildet werden.

Die Mittelasien-Politik von Präsident Putin seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren zeigt, daß der Kreml diese Bedrohungen immer deutlicher erkennt und versucht, ihnen entgegenzuwirken. Moskau beginnt ein neues Modell der Beziehungen zu den Chefs der mittelasiatischen Staaten, und in erster Linie zu Kasachstan, aufzubauen.

Rußland nutzt dabei mit unterschiedlichem Erfolg sowohl die bilateralen Partnerschaftsbeziehungen als auch internationale Organisationen, vor allem die GUS, sowie regionale Vereinigungen, wie die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, aber auch kontinentale, spezialisierte  - wirtschaftliche, militärische, humanitäre -  Zusammenschlüsse. Aber sie formiert und führt auch neue Organisationen und Blocks, gleichsam parallel zu den bereits bestehenden, oder entwickelt die bereits traditionellen. So ist in Kirgisien der Stab der regionalen schnellen Eingreiftruppe aus Verbänden Rußlands, Tadshikistans und Kirgisiens eingerichtet worden. In Tadshikistan wurde zur Unterstützung der dort bereits stationierten russischen Truppen ein Fliegerstützpunkt aufgebaut.

Mit der Bildung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit „SCO” hat Rußland eine neue Möglichkeit für die Einwirkung auf seine südlichen Nachbarn. Mit Hilfe der SCO versucht Moskau nicht nur die Wirtschaftsbeziehungen widerherzustellen, sondern auch den Kampf gegen den islamischen Terrorismus und den afghanischen Drogenhandel zu aktivieren. So kann sich der russische Präsident die Organisation des Antiterrorzentrums der SCO in Taschkent als sein Verdienst anrechnen.

Das heutige Rußland scheint auf diese Weise Lehren aus seiner einstigen imperialen Mittelasienpolitik gezogen zu haben. Moskau lehnt die Rückkehr dazu ab und hält sich an die Regel „Gleicher unter Gleichen zu sein”. Es hat aufgehört, sich in der Region „wie in der UdSSR” zu verhalten. Kennzeichnend dafür sind die korrekte Kritik an der Lage der russischsprachigen Bevölkerung in den Ländern der Region und zurückhaltende Einschätzungen der innenpolitischen Situation dort.

Natürlich beunruhigt es Moskau, daß es um die Redefreiheit, die Menschenrechte und andere demokratische Werte in den jungen Staaten Mittelasiens nicht zum Besten bestellt ist, aber darüber wird der Kreml erst als Vorletzter laut und eindeutig sprechen.

Beim Aufbau des neuen Verhaltensmodells in der Region rechnet die russische Führung mit der Unterstützung des Rußlandfreundlichen Teils der lokalen Beamtenintelligenz  - sie wird hier als „prosowjetisch” bezeichnet -  , der Chefs der zweiten und dritten Behördenebenen, die in höherem Maße als ihre Präsidenten rußlandfreundlich gestimmt sind. Die lokalen Verwaltungseliten sind sich der wirtschaftlichen Vorteile einer Integration mit Rußland voll bewußt.

Rußland muß diese Kräfte für sich gewinnen, vor allem aber das politische Kapital, das Rußland von der UdSSR geerbt hat, dafür zu nutzen, den „totalen Widerstand” gegen die USA zu sichern. Natürlich, die Regierungen der asiatischen Länder können die finanzielle und militärische Hilfe Washingtons begrüßen, brauchen aber nicht unbedingt die Politik des Weißen Hauses zu unterstützen. Im Endergebnis muß doch alles bezahlt werden, darüber sind sich die Spitzenvertreter der Region klar. Die Bezahlung dafür, die von den Amerikanern gefordert werden kann, sind nicht nur die Militärstützpunkte, sondern auch eine Verbesserung der demokratischen Situation in den mittelasiatischen Ländern, die die Amerikaner fordern können. Sie beobachten in dieser Hinsicht immer aufmerksamer Turkmenien. Zweifellos hat das US-Außenministerium Aschchabad auf dem Kieker.

Die große Rolle Chinas in Mittelasien berücksichtigend, laviert Rußland zwischen zwei Gegensätzen: dem Streben nach Annäherung und dem Streben nach totalem Entgegenwirken. Welches davon die Oberhand gewinnen wird, wird die Zeit zeigen. Man kann jedoch davon ausgehen, daß mit der Festigung der wirtschaftlichen und militärischen Position Rußlands in Mittelasien sich das Entgegenwirken verstärken wird.

Die Wiedergewinnung der Führungsrolle wird in vieler Hinsicht von der russischen Politik gegenüber Afghanistan abhängen. Moskau besitzt immer noch ein großes Potential an nichtmilitärischem Einfluß auf die afghanische Kräftekonstellation. Jahrzehntelang waren sowjetische Technik und Technologien hier allein auf weiter Flur. Sowjetische Fachleute haben praktisch alle Industrie-, Energie- und Transportobjekte in Afghanistan gebaut und betrieben. Der König, die Kommunisten, Mujaheds und Taliban haben mit sowjetischen Waffen oder deren chinesischen Varianten gegeneinander gekämpft. Moskau kann all das nicht unbeachtet lassen. Worauf es ankommt, ist, richtig zu bestimmen, auf wen in Kabul gesetzt werden muß.

Die neulichen Besuche des afghanischen Verteidigungsministers und des Innenministers haben gezeigt, daß in der afghanischen Hauptstadt die Notwendigkeit gespürt wird, Bündnisbeziehungen zum neuen Rußland aufzubauen. Mehr noch, dort hat sich eine sogenannte „Russische Fraktion” herausgebildet. Ihre Grundlage bilden die Angehörigen der Nord-Allianz und der von ihnen kontrollierte Sicherheitsblock in der Regierung von Hamid Karzai.

Somit werden wir Zeugen der Umsetzung der eurasischen Idee, die Anfang des vorigen Jahrhunderts vom russischen Ethnographen Lew Gumiljow entwickelt worden war, durch Rußland unter den neuen historischen Bedingungen.

Wassili Subkow  

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Weltnetzzeitschrift „Der Lotse”