Die unvollendete Moderne des 20. Jahrhunderts
von Horst Beger

 

Vorwort

Auch wer sich noch nicht näher mit dem Begriff der sogenannten Postmoderne auseinandergesetzt hat, ist sicher schon einmal auf das Modewort gestoßen. Es geistert ja nicht nur durch die Feuilletons der Zeitschriften, sondern es finden auch „philosophische” Kongresse darüber statt, und es erscheinen ständig neue Bücher zu dem Thema. Eines, das bereits vergriffen ist, heißt „Abschied von der Postmoderne - Beiträge zur Überwindung der Orientierungskrise”.

In der Diskussion dient das Schlagwort von der Postmoderne, je nach Standort der Verfasser, einmal als Gegenbegriff zur Moderne und einmal als deren Erfüllung. Daher habe ich versucht, das Thema grundlegender anzugehen und zunächst einmal zu klären, um welche Moderne es sich handelt, wenn von der Post-Moderne die Rede ist. Die Begriffsklärung und Entwicklungsgeschichte der Moderne des 20. Jahrhunderts nimmt daher einen breiteren Raum ein, als man das bei der Betrachtung eines einzelnen Begriffes wie der Postmoderne vielleicht erwartet.

Im Hinblick auf das Oberthema der Konferenz „Wege der Gesellschaftsentwicklung in der Epoche der Veränderungen” habe ich versucht, das Thema nicht nur von der ästhetischen Seite zu betrachten, sondern auch die gesellschaftlichen Fragen mit einzubeziehen, die damit verbunden sind. Ein solcher Versuch kann nur symptomatisch sein und nicht alle Fragen beantworten. Und da die „soziale Frage” auch von der Postmoderne nicht gelöst wurde bzw. nicht ihr Thema ist, habe ich meine Ausführungen „Die unvollendete Moderne des 20. Jahrhunderts” genannt.

Als Titelbild habe ich eine Farbkopie der Improvisation Nr. 4 von Wassily Kandinsky aus dem Jahre 1909 gewählt, dem gleichen Jahr in dem auch die „Wegzeichen” (Vechi) herausgegeben wurden, auf die ich beide in meinen Ausführungen kurz eingehen werde. Das Original hängt im Kunstmuseum von Nishnij Nowgorod und ist ein schönes Zeugnis der russischen Moderne (Avantgarde) und russisch-deutscher Begegnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist es ein Beispiel für die Moderne überhaupt, in der sich ein „neuer Geistrealismus” (Krüger) zeigt, der wegweisend ist für das 21. Jahrhundert.

Essen, Januar 2001
Horst Beger, Architekt

 

 

Die unvollendete Moderne des 20. Jahrhunderts
- Wege der Gesellschaftsentwicklung in der Epoche der Veränderungen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in Rußland schon einmal „Wege der Gesellschaftsentwicklung in der Epoche der Veränderungen” gesucht. Und Michail Gersenzon, einer der Herausgeber der „Wegzeichen” (Vechi) schrieb damals im Vorwort: „Die Aufsätze des vorliegenden Sammelbandes sind geschrieben in brennender Sorge um die Zukunft der Heimat.” Die „Wegzeichen” von 1909 haben zwar wenig bewirkt, wenn man die von außen beeinflußte weitere Gesellschaftsentwicklung zugrunde legt. Aber sie haben doch ihre Spuren hinterlassen „in dem Sinne, daß ihr gemeinsamer Ausgangspunkt die Anerkennung des theoretischen und praktischen Primats des geistigen Lebens über die äußeren Formen des Gemeinschaftslebens ist, daß das innere Leben der Persönlichkeit die einzige Kraft der menschlichen Existenz ist und, daß dieses innere Leben, und nicht die selbstgenügsamen Prinzipien der Politik die einzige feste Basis abgeben, um eine Gesellschaft zu errichten” (Geršenzon). Das war und ist ganz modern, und die Geschichte hat das bestätigt. Die Verfasser der „Wegzeichen” haben Hegels Philosophie besser verstanden als Karl Marx. Das ändert nichts an dem Verdienst von Marx, frühzeitig den Finger in die Wunde der bis heute ungelösten sozialen Frage gelegt zu haben. Aber das Aufarbeiten der „Wegzeichen” von 1909 ist nicht unser Thema, so interessant das sein könnte, hieße das doch, sich mit der russischen Religionsphilosophie zu befassen, die im Westen und von den Westlern meist nicht verstanden und deshalb als „unwissenschaftlich” abgelehnt wird. Für diejenigen, die sich in der deutschen Sprache mit den „Wegzeichen” befassen wollen, habe ich eine deutsche Ausgabe mit einem kritischen Vorwort „Zur russischen Intelligenz” (1990) von Karl Schlögel für ihre Bibliothek mitgebracht. Prof. Karl Schlögel, den ich persönlich kennengelernt habe, ist Osteuropaexperte und hat auch den Essayband „Das Wunder von Nishnij” (1991) geschrieben, der schon in ihrer Bibliothek steht.

Blicken wir kurz auf das 21. Jahrhundert, das ja gerade erst begonnen hat. Interessanterweise hatte der ehemalige UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow und seine amerikanische Stiftung in San Francisco 1995 die Geldmächtigen der Welt zu einem „global Braintrust”, einer Versammlung von selbsternannten Gedankenstiftern, eingeladen, „um den Weg zu einer neuen Zivilisation ins 21. Jahrhundert zu weisen”, nachzulesen in „Die Globalisierungsfalle” (1996) von Hans-Peter Martin und Harald Schumann. Als Ergebnis dieses „global Brainstormings” (Gedankensammlung) verkündeten die Pragmatiker von San Francisco „Die 20 : 80 Prozentgesellschaft.” D. h., 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im 21. Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. Mehr Arbeitskräfte würden nicht gebraucht, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne. Diese 20 Prozent würden auch aktiv am Leben, am Verdienen und Konsumieren teilnehmen können - egal in welchem Land. „Die anderen 80 Prozent der Bevölkerung würden gewaltige Probleme bekommen”, oder noch deutlicher, die Frage würde künftig sein: „fressen oder gefressen werden” (S. 12), und keiner der 500 Teilnehmer habe widersprochen. Das einzige, was den Teilnehmern eingefallen sei, „um die anderen 80 Prozent ruhigzustellen”, sei das Schlagwort „tittytainment” gewesen, das der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, der aus Polen stammende Zbigniew Brzezinski ins Gespräch gebracht habe. „Tittytainment”, so Brzezinski, sei eine Kombination von „entertainment” (Unterhaltung) und „tits” (amerikanisches Vulgärwort für Busen), d. h., mit einer Mischung aus betäubender (Fernseh-)Unterhaltung und der Befriedigung der Grundbedürfnisse (die keineswegs gesichert sind) könnten die anderen 80 Prozent der Bevölkerung bei Laune gehalten werden. Ich habe das Wort (Fernseh-) ergänzt, weil dieses Medium unabhängig von der Qualität der Programme nachgewiesenerweise eine betäubende und sugestive Wirkung hat. Insbesondere bei Kindern bis zur Pubertät, die noch nicht selbst reflektieren können, führt das zu einem wirklichkeitsfremden Weltbild. Daß ausgerechnet Brzezinski, der langjährige Brief-Korrespondent von Papst Wojtyla den Begriff „tittytainment” eingebracht hat, läßt darauf schließen, daß sie in dieser Weltsicht übereinstimmen. Denn die katholische Kirche strebt auf ihre Weise ja auch eine Betäubung der Menschen an, um ihre Macht zu erhalten. Wer das genauer erfassen will, der lese „Die Legende vom Großinquisitor” von Dostojewskij. Ich habe ihnen eine zweisprachige Ausgabe in zeitgemäßer Übersetzung als Kopie mitgebracht, weil das Original vergriffen ist.

Verehrte Anwesende, liebe Freunde, der Übergang in eine neue Zeit, in ein neues Jahrzehnt, Jahrhundert oder Jahrtausend, geschieht nicht von gestern auf morgen, sondern in jedem Augenblick. Was gestern gedacht, getan oder versäumt wurde, ist heute Wirklichkeit, und was heute gedacht, getan oder versäumt wird, kann morgen Wirklichkeit sein (das entspricht dem zyklischen Denken des keltisch-germanisch-slawischen Heidentums, wo es unter anderem heißt, daß die Wurzeln des Lebensbaumes der Welt von unseren Zeit- und Schicksalsgöttinen mit dem Wasser aus dem Urdaborn, also dem Vergangenheitsquell, benetzt werden, um ihn am Leben zu erhalten, und es entspricht auch der Rückkopplungsthese der Chaostheorie. - Anm.d.Red.). Dabei sollte man die Begriffe gestern und morgen zeitlich nicht zu eng sehen, das können manchmal Jahrzehnte oder eine ganze Generation von 33 Jahren sein; bei unserem letzten Treffen zum Beispiel haben wir die kulturhistorischen Folgen des Ersten und Zweiten Weltkrieges betrachtet. Was im Augenblick nicht gelingt, das wird auch durch den bloßen Wechsel von einem Jahrzehnt, Jahrhundert oder Jahrtausend nicht gelingen. Und was uns im Augenblick gelingt, das kann sich segensreich für alle Zukunft auswirken. So kann sich der Beginn der Städtepartnerschaft zwischen Nishnij Nowgorod und Essen vor zehn Jahren und der Beginn eines neuen Kulturaustausches, der dadurch möglich wurde, positiv für Ost und West auswirken. In meinen Ausführungen zur „unterschiedlichen Entwicklung des Christentums in Ost und West” und dessen Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft habe ich versucht, das in einem größeren Zusammenhang darzustellen. Das gilt auch für das Oberthema unseres Treffens: „Wege der Gesellschaftsentwicklung in der Epoche der Veränderungen”, bei dem man den Epochenbegriff in Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden betrachten kann. An dem Unterthema: „Postmodernisierung.als eine Tendenz der Entwicklung des 21. Jahrhunderts”, will ich versuchen, das deutlich zu machen, indem ich einen Gegenentwurf zur sogenannten Postmoderne entwickeln und vortragen will mit dem Thema: „Die unvollendete Moderne des 20. Jahrhunderts”. Dahinter steht die Frage, ob die sogenannte Postmoderne eine Fortschreibung der Moderne ist oder deren Ablösung und Wende betreibt, Fortschritt oder Rückschritt ist. Und die Auseinandersetzung mit dieser Frage zeigt, daß man der Frage nicht beikommt, wenn man nicht die weitergehende Frage nach dem Wesen der Moderne hinzunimmt. Die Begriffsklärung und Entwicklungsgeschichte der Moderne nimmt daher, wie gesagt, einen breiteren Raum ein, als man das bei der Betrachtung eines einzelnen Begriffes wie der Postmoderne erwartet.

Ich habe das Thema in Bezug auf die Architektur 1995 schon einmal vor Studenten der Bauakademie von Nishnij Nowgorod vorgetragen, möchte es hier aber allgemeiner fassen und die bildende Kunst, Literatur und Philosophie einbeziehen. Dort, wo ich fachübergreifend andere Bereiche, wie die Literatur, mitbehandle, die mir nicht so geläufig sind wie die Architektur, habe ich mich auf entsprechende Fachliteratur gestützt, in diesem Fall auf Manfred Krügers „Bilder und Gegenbilder - Versuch über moderne Literatur”. Und ich bitte um Nachsicht, wenn ich dabei nicht immer streng wissenschaftlich mit genauer Jahres- und Seitenzahl, Verlagsort usw. zitiere; dafür habe ich ihnen die wichtigsten Bücher mitgebracht. Und bezüglich der Philosophie des 20. Jahrhunderts halte ich mich an den Philologen und Religionsphilosophen Georg Picht, der in seinem nachgelassenen Werk „Kunst und Mythos” (1986) schreibt: „Die große Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich nicht in Worten, sondern in der bildenden Kunst vollzogen, Denken ist Darstellung geworden.”

Zu klären ist daher zunächst, welche Moderne gemeint ist, wenn von der Postmoderne die Rede ist. Wenn unter Moderne die Neuzeit als Epochenbegriff nach Antike und Mittelalter verstanden wird, könnte man mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß diese „Moderne” Vergangenheit oder postmodern ist. Der englische Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee prägte den Begriff „postmodern” bereits 1946 in seinem Werk „Kulturen im Übergang” als Fortschreibung des englischen Begriffes „modern times” (Neuzeit). Das Ende dieser Neuzeit und den Beginn eines neuen Zeitalters, unserer Moderne, legt er bereits in das Jahr 1875 und kennzeichnet dieses als „Übergang von nationalstaatlichem zu globalem Denken”. Der Begriff „globales Denken” ist bei ihm also viel älter, als unsere Politiker uns das heute als neue Erkenntnis verkaufen wollen. Wobei es immer problematisch ist, einen solchen Begriff auf eine bestimmte Jahreszahl festzulegen.

Ich erwähne den Bezug zur Antike und zum Mittelalter auch deshalb, weil wir in der Architektur und Kunst noch vielfach von dem idealisierten Schönheitsbegriff der Antike und des Mittelalters leben, bzw. in der sog. Postmoderne teilweise wieder darauf zurückfallen, wenn deren reaktionäre Verfechter verkünden, daß nun endlich wieder das Wahre, Gute und Schöne zur Darstellung komme. Der grundlegende Unterschied ist jedoch, daß das Wahre, Gute und Schöne in der Antike und im Mittelalter noch identisch waren, d. h., die Schönheit war eine objektive Eigenschaft des Seins, und was nicht wahr und gut war, war auch nicht schön, und umgekehrt. Der nicht-ästhetische Charakter des Schönen in der Antike und im Mittelalter ist es aber auch, der uns in den wegweisenden Aussagen der modernen Kunst (Avantgarde) wieder begegnet und fasziniert. Nur ist er in der modernen Kunst mehr und etwas anderes als die idealisierte Vorstellung eines höheren oder tieferen Seins.

Diesen gundsätzlichen Wandel von der alten zur modernen Kunst sieht der Kunsthistoriker Werner Haftmann um das Jahr 1890 bei Cezanne, Gauguin, van Gogh. Für Rußland könnte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kandinsky, Jawlensky (beide ab 1896 in München), Malewitsch, Larionow, Goncarowa usw. nennen. In seinem Buch: „Malerei im 20. Jahrhundert” bezeichnet Werner Haftmann diesen grundsätzlichen Wandel als „Kunstwende”, als radikale geistige Wendung, als ein neues Dingverhältnis von Ich und Welt, das die sichtbare Welt verwandelt und etwas Neues, Unsichtbares, sichtbar macht. „Realisé”, nannte Cezanne diesen Vorgang, d. h., er wollte die Natur nicht mehr abmalen, sondern parallel zu Natur, wie die Natur, eigenschöpferisch tätig sein und schaffen. Oder wie der Maler Paul Klee das formuliert hat: „nicht etwas Sichtbares wiedergeben, sondern sichtbar machen”. Interessant ist, was Werner Haftmann über Kandinskys Einfluß schreibt, der am konsequentesten den Weg in die Abstraktion und Moderne ging: „Kandinsky arbeitete mit klarstem Bewußtsein, einer tiefen Intuition und scharfen bildnerischen Intelligenz. Vor allem war es sein Russentum, das ihn befähigte, die Welt des Materiellen und seiner Gestalten hinter sich zu lassen. Denn das Mystische der russischen Menschlichkeit hat Kunst nie (nur) als Wiedergabe eines Sichtbaren verstanden, sondern hat sich seit jeher im Sinnzeichen auf dem abstrakten Grund der Fläche ausgedrückt (in den Ikonen) oder mit abstrakten Mitteln in den Innenräumen der Kirchen und Bauernstuben” (S. 175 ff.). Siehe dazu auch Kandinkys Improvisation Nr. 4 (1909) auf der Titelseite.

Für die moderne Literatur die vielleicht am sensibelsten auf Veränderungen reagiert, legt der Literaturwissenschaftler Manfred Krüger diese Wende bereits in die Mitte des 19. Jahrhunderts, In „Bilder und Gegenbilder” schreibt er, daß sich die Moderne des 20. Jahrh. nicht nur vom Alten und Vergangenen absetzt, sondern vom sogenannten Klassischen, ewig Schönen und zeitlos Gültigen. Er beruft sich dabei auf den französischen Lyriker Charles Baudelaire und dessen Gedichte „Fleur Du Mal” (Blumen des Bösen), dem es darum geht, „das Ewige aus dem Vergänglichen zu ziehen”. Bei den russischen Futuristen Viktor Chlebnikow und Aleksej Krucenych gab es Anfang des 20. Jahrh. vielleicht ähnliche Entwicklungen in dem ironischen Poem „Höllenspiel” mit Illustrationen von Natalija GontCarowa. „Vom modernen Künstler werden also ewige Werte nicht geleugnet, sondern im Vergänglichen gesucht und sichtbar gemacht. Das ist das entscheidende Kriterium gegenüber der herkömmlichen Ästhetik, für die es einen Kanon festgefügter zeitloser Wertvorstellungen gab. Die herkömmliche idealistisch-platonische Ästhetik hat das Abbilden des Ewigen als bloßes Aufscheinen des Ewigen, als bloßes Abbilden einer zeitlosen Idealität verstanden. Die moderne Ästhetik zeigt die Umkehrung: Das KonkretSinnliche gewinnt in all seiner Vergänglichkeit durch die künstlerische Gestaltung Ewigkeitswerte. Es wird im wörtlichen Sinne „aufgehoben”, d. h., es findet ein Verwandlungsprozess im Materiellen statt. Hier manifestiert sich in scheinbar geistloser Zeit ein neuer Geistrealismus, der nicht eine jenseits der Erfahrung liegende Abstraktion meint, sondern als konkrete Geisterfahrung im Irdischen, im Vergänglichen, Einmaligen, Unscheinbaren und Flüchtigen erfaßt werden kann (das gilt auch und gerade in der bildenden Kunst, in der Malerei und Skulptur). Baudelaire scheiterte noch an diesem scheinbaren Widerspruch, weil er den Gegensatz des Sinnlich-Tatsächlichen zum Geistig-Wesenhaften nur als dessen Gegenbild, nämlich als Überdruß am Sinnlich-Tatsächlichen erfahren konnte” (Krüger). Die Zeit war offenbar noch nicht reif für diesen Bewußtseinswandel, der erst im Ringen der bildenden Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen sichtbaren Ausdruck fand. In der Baukunst, die ja immer auch Zweckbau war und ist und dadurch stärker in der Tradition verhaftet, wurde der Aufbruch und Bewußtseinswandel nicht in der gleichen Weise sichtbar und deutlich wie in der bildenden Kunst und Literatur, weshalb ich ausführlicher auf diese eingegangen bin. Den Wandel auch in der Baukunst aufzuzeigen, würde den zeitlichen Rahmen meiner Ausführungen überschreiten.

Kommen wir zurück zur sog. Postmoderne. Der Begriff „postmodern” tauchte erstmals 1959 in der amerikanischen Literaturdebatte auf und wurde dort zunächst als das Ende der großen Literatur der Moderne - der Eliot, Pound und Joyse - beklagt. Schon bald jedoch entwickelte er sich von einem Negativbegriff zu einem Positivbegriff mit dem Anspruch, eine alte und elitäre Kunst der Moderne durch eine neue junge „Kunst der pluralistischen Gesellschaft” abgelöst zu haben. Diese habe die Kluft zwischen Künstler und „Massenpublikum” geschlossen, und zwar nicht durch Einebnung, sondern durch „Mehrsprachigkeit”, durch Mehrfachstruktur, zumindest durch „Doppelstruktur”, indem sie nicht mehr nur intellektuell und elitär, sondern zugleich romantisch, sentimental und populär sei. Nach dem selbsternannten Philosophen der Postmoderne, Wolfgang Welsch, sei damit seit 1969, also zehn Jahre nach Beginn der postmodernen Literaturdebatte, die fortan sich durchhaltende Grundformel erreicht: „Postmoderne liege dort vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen praktiziert werde, und zwar nicht nur in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk.” Und als Musterbeispiel eines „doppelt codierten” Werkes nennt er Umberto Ecos „Rosenroman”, der „Intellektalität und Vergnügen, Mittelalter und Gegenwart, mystische Ekstase und kriminalistische Analytik verbinde”; man könnte noch ergänzen: und Geistaustreibung, denn alle intellektualistische Spitzfindigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß damit gleichzeitig eine Nivellierung stattfindet. Diese pluralistische Philosophie des „anything goes”, alles ist möglich, alles ist gleich gültig, im Deutschen kann man auch sagen gleichgültig (in einem Wort), bedeutet zugleich: nichts ist mehr gültig. Da Umberto Eco hier wahrscheinlich nicht so bekannt ist, möchte ich für Rußland den Star der jungen Generation, Viktor Pelewin, nennen, aus dessen Roman „Generation P” ich kürzlich einige Auszüge der deutschen Übersetzung (vom Übersetzer gelesen) gehört habe. Wer den Roman noch nicht gelesen hat, kann ihn ja in der deutschen Übersetzung lesen, die ich mitgebracht habe, dann lernt er noch etwas Deutsch dabei. Offenbar spricht sich in dem Bedüfnis nach spektakulären Ereignissen und Fiktionen, und sei es durch Drogen, die Sehnsucht der jungen Generation nach einer Welt aus, die über die Alltagswelt hinausgeht, sonst würde er nicht so viel gelesen; und das ganze ist ja auch nicht ohne einen gewissen Humor. Sollte Pelewin zum Beispiel bei dem Werbeslogan, in dem er Christus vor der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau aus einer Limousine aussteigen läßt, an „die soliden Herren”, die dort ein und aus gehen, gedacht haben, so ist das ja nicht ohne aktuellen Humor. Für mich, als Vertreter der älteren Generation, ist das ganze jedoch ein schwer verdaulicher Cocktail, und ich kann mir nicht vorstellen, daß mit einem solchen virtuellen Spektakel von postmodernen Fiktionen und einer solchen Vulgärsprache die Sehnsüchte der jungen Generation wirklich erfüllt werden. Deshalb kann ich den Literaturwissenschaftler Reinhard Lauer verstehen, wenn er in seiner „Geschichte der russischen Literatur von 1700 bis zur Gegenwart” schreibt: „So verständlich das radikale Aufbegehren gegen das Verantwortungssyndrom, gegen Ideologisierung und Sozialkritik auch sein mag, es ist nicht zu übersehen, daß die russische Literatur mit der neuen ludistischen (spielerischen) Beliebigkeit, ererbte Qualitäten einbüßt, die einem Identitätsverlust gleichkommen.” Vergleichbares könnte man auch über gewisse vulgäre postmodernistische Tendenzen in der bildenden Kunst, bzw. über das, was dafür gehalten wird, sagen.

Kommen wir zurück zu der Frage möglicher „Wege der Gesellchaftsentwicklung in der Epoche der Veränderungen” und zu den weiteren Themen der Konferenz von den „Problemen der Selbstverwirklichung des Menschen als Einzelner und als Mitglied der Gesellschaft” bis zu den „Perspektiven für die Entwicklung der Bildung im 21. Jahrhundert”. Wenn wir uns nicht mit der „20:80 Prozent-Gesellschaft” und „Tittytainment” zufrieden geben wollen, stellt sich die Frage, welche menschlichere oder russischere Lösung es geben könnte. Die Herausgeber der „Globalisierungsfalle” haben „Zehn Ideen gegen die 20:80 Prozent-Gesellschaft” vorgeschlagen, von denen ich zwei wiedergeben möchte:

  1. „Größe ist der einzig wichtige Machtfaktor in der globalisierten Wirtschaft, insofern kann die gemeinsame Euro-Währung ein Gegengewicht zu der Willkür der US-Notenbank und der Geldhändler von London bis Singapur werden.” An Größe mangelt es Rußland ja nicht, aber es ist sehr die Frage, ob es richtig war und ist, sich so vom Dollar abhängig zu machen wie bisher. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß der bereits erwähnte Brzezinski „gegen eine stärkere Europäische Union ist, weil er dadurch einen schwächeren Einfluß der USA auf Europa befürchtet” (die „ZEIT” vom 18. 1. 2001). „Der NATO-Bombenkrieg der USA gegen Jugoslawien hatte daher keine humanitären Gründe, sondern war die Antwort Amerikas auf den Euro”, wie ein Rundfunkkommentator das kürzlich ausgedrückt hat. Das ist die Botschaft der blutigen „neuen Weltordnung”, die Amerika der ganzen Welt auferlegen will.

  2. „Je mehr die wachsende materielle Ungleichheit den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht, um so wichtiger ist es, daß die Bürger selbst die demokratischen Grundrechte verteidigen und die soziale Solidarität stärken. Gleich ob in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, bei der Mitarbeit in Kinderbetreuungseinrichtungen oder in Umweltinitiativen.” Für beides gibt es in Nishnij Nowgorod ja positive Beispiele: Eine Bürgerinitiative hat schon vor Jahren verhindert, daß ein Atomkraftwerk in unmittelbarer Stadtnähe in Betrieb ging. Und von unseren Zivildienstleistenden in Nishnij Nowgorod habe ich erfahren, daß es hier schon seit einiger Zeit eine Freiwilligenorganisation gibt, in der sich Elternitiativen und eine Diabetikerliga, Gehörgeschädigte und Rollstuhlfahrer, Menschenrechtler und Soldatenmütter zusammenfinden, um gemeinsam die menschlichen Grundrechte einzufordern und zu stärken.

Um die Wichtigkeit des letzten Punktes zu verdeutlichen, möchte ich auf die kleine Schrift „Die Globalisierung gestalten” des Philippinen Nicanor Perlas hinweisen, die gerade erschienen ist. Die elitären Entwicklungstendenzen einer 20:80 Prozent-Gesellschaft nennt er dort „rücksichtslos, zukunftslos und wurzellos”. Unter Hinweis auf den erfolgreichen Aufstand der Zivilgesellschaft gegen die WTO (Welthandelsorganisation) in Seattle im Dezember 1999 zeigt er die globale Bedeutung der Zivilgesellschaft und des Faktors Kultur in der Gesellschaft. In Seattle wollte die WTO weitreichende einklagbare Regeln zur Durchsetzung von ausländischen Investitionen in den teilnehmenden Staaten einführen. Diese sollten zur einseitigen Zusammenarbeit gezwungen werden können, während umgekehrt den Investoren fast keine Pflichten hinsichtlich der Einhaltung von Menschenrechten, Sozialverträglichkeit, Umweltschutz usw. auferlegt werden sollten. Ebenso sollten die teilnehmenden Staaten gezwungen werden, Eigentumsrechte an Grund und Boden, sowie anderen strategischen Resoursen wie Energie- und Wasserversorgung, ausländischen Investoren zu überlassen. Der Aufstand der Nicht-Regierungs-Organisationen in Seattle hat das vorläufig verhindert. Perlas bezeichnet die Einflußmöglichkeiten der Zivilgesellschaft daher als Kulturkraft, die nicht hoch genug eingeschätzt werden könne. Das Auftauchen der Zivilgesellschaft als neues Element neben dem Staat und dem Wirtschaftsleben sieht er als das wichtigste Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhundert. „Die Kultur ist die einzige Kraft für eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung im 21 Jahrhundert. Und die Kultur kann in der sozialen Welt nur durch den Einzelnen handeln oder durch Gruppen von Einzelnen in gemeinsamen Aktionen; die Kultur alleine kann nicht handelnd in der Welt auftreten. Ihre Ideen erhalten die einzelnen Individuen aus dem Bereich des Geistigen. Aus diesem erfassen sie religiöse Erkenntnisse, ethische Impulse, soziale Zusammenhänge und wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten. Das Individuum kann in jedem Bereich der Gesellschaft tätig sein, in der Kultur, in der Wirtschaft und in der Politik, aber das Individuum ist dasjenige, das alleine Verbindung zum Geistigen hat” (S. 94 ff.).

Das sind Sätze, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den „Wegzeichen” schon einmal angeklungen sind, wenn auch etwas selbstkritischer in Bezug auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland; und sie sind so modern wie damals. Auch aus diesem Grunde kann die Moderne nicht für abgeschlossen erklärt werden. Nach dem Fall der Mauer (übrigens eine Leistung der Zivilgesellschaft) und „dem Sieg des Kapitalismus” hatte Francis Fukuyama zwar schon „das Ende der Geschichte” (1992) verkündet, aber die sinnstiftende Kraft der Kultur nicht berücksichtigt. Die Kultur zählt bei ihm nicht zu den treibenden Kräften der Geschichte, weil sie den wirtschaftlichen und politischen Kräften untergeordnet sei, eine Behauptung, die ihre Wurzel im Materialismus des 19. Jahrhundert hat. Bei Fukuyama gibt es keine kulturelle Sinnsuche, sondern nur egoistisches Streben nach „Anerkennung”. Nicanor Perlas sieht demgegenüber „in der Besinnung auf die Kultur und die Zivilgesellschaft den Anfang einer neuen Geschichte im 21. Jahrhundert (S. 165-).” Wenn das so ist, davon gehe ich aus, kann man das auch als „das Ende der (alten) Geschichte” betrachten, aber nicht als post-modern, weshalb ich meine Ausführungen „die unvollendete Moderne des 20. Jahrhunderts” genannt habe. Und wenn ich dabei mit Michail GerCenson „vom theoretischen und praktischen Primat des geistigen Lebens über die äußeren Formen des Gemeinschaftslebens” ausgegangen bin und davon, „daß das innere Leben der Persönlichkeit die einzige Kraft der menschlichen Existenz ist, die einzige feste Basis, um eine Gesellschaft zu errichten”, so ist das ja noch keineswegs allgemeine gesellschaftliche Praxis, zumindest nicht in Deutschland und im Westen. Man kann auch die Materie, das Mechanische, die sog. Sachzwänge zum Ausgangspunkt seines Denkens und Handelns machen. Was das für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft bedeutet, möchte ich in einem Nachwort zum Primat des Geistes oder der Materie darzustellen versuchen.

 

Nachwort

Die Frage nach dem Primat des Geistes oder der Materie, die ihnen ja nicht unbekannt ist, kann in folgende Teilfragen aufgegliedert werden:

  1. Entweder ist das Geistige das Ursprüngliche und alles Materielle ist eine verdichtete Erscheinungsform des Geistigen, oder die Materie ist das Ursprüngliche und alles Geistige ist eine Funktion und Produkt der Materie.

  2. Entweder ist das Leben das Ursprüngliche und das Tote eine Abscheidung des Lebendigen, oder das Tote, Mechanische ist das Ursprüngliche und das Leben ist der komplex gewordene Mechanismus des Toten.

  3. Entweder ist die Gestalt, die Ganzheit, die Einheit das Ursprüngliche und das Atom, das Teilchen ist zertrümmerte Gestalt, oder das Atom ist das Ursprüngliche und die Gestalt, die Ganzheit ist nur das Ergebnis der Wechselwirkungen einer Summe von Atomen nach Strukturgesetzen und Wahrscheinlichkeiten.

  4. Entweder ist Harmonie, Zusammenhang, die sinnvolle Idee, die „prästabilisierte Harmonie” nach Leibniz, das Ursprüngliche, oder der sinnlose Zufall, der „Urknall” der Atomphysik.

  5. Entweder sind Wesen, Personen, Ich-e das Ursprüngliche, oder Sachen und Sachverhalt sind das Ursprüngliche und Wesen sind Scheingebilde, Illusionen des Selbsterlebens.

Man kann die jeweils erste oder zweite dieser Möglichkeiten zur Voraussetzung seines Denkens über die Welt machen. Nimmt man Geist, Leben, Einheit, Sinn und Wesen als das Ursprüngliche, so wird man in Materie, Tod, Teilchen, Zufall und Sache die Erscheinung des ersteren in dem zweiten finden. Man wird in allem Sinnlichen ein Geistiges, Lebendiges, Wesenhaftes in seiner äußeren Offenbarung erkennen; und man wird versuchen, aufgrund dieser Erkenntnis durch den Schleier des Sinnlichen zum Verständnis dieses Wesenhaften hindurch zu dringen.

Es läßt sich jedoch auch die jeweils zweite Möglichkeit zum Ausgangspunkt nehmen. Man wird dann versuchen herauszubekommen, wie aus Materie Geist, aus Tod Leben, aus Teilchen Ganzheit, aus Zufall Sinn und aus Sachen Wesen werden. Der Blick auf das Spezifische von Geist, Leben, Ganzheit, Sinn und Wesen wird aber immer verdunkelt sein durch die Voraussetzung von der man ausgeht. Denn für Materie, Mechanismus, Einzelheit, Zufall und Sache hat der Mensch Organe und Begriffe. Für Geist, Leben, Ganzheit, Sinn und Wesen hat er diese zwar auch, doch sind sie nur keimhaft veranlagt und müssen geweckt und ausgebildet werden; das ist die kulturelle Aufgabe unserer Zeit.

Wenn der Mensch sich denkerisch nur auf Materie, Mechanismus, Teil, Zufall und Sache stützt, wird er als Mensch innerlich unwahr, denn er lebt selbst in beidem zugleich, in der Physis und im Geist, in der materiell erscheinenden äußeren Welt und denkend, fühlend und wollend in der von innen erscheinenden Gedanken- und Seelenwelt. Da er letztere aber selbst ist, ist er zunächst ohne Selbsterkenntnis, blind für Geist, Seele und Leben, gleich dem Auge, das zwar die Welt sieht, aber nicht sich selbst.

Interpretiert der Mensch, indem er sich nur an die zweite Reihe der Voraussetzungen hält (Materie, Tod usw.), die andere Reihe weg (Geist, Leben usw.), so lebt er mit einem grundlegenden Veränderungskomplex seines Wesens. Dadurch wird die menschliche Seele innerlich zerrieben, und Hohn, Spott und Verachtung, die dann dem Primat des Geistes entgegengebracht werden, sind Ausdruck dieser gewaltsamen Verdrängung in das Unbewußte; ein Zerrbild des Menschenwesens, das sich nach dem Primat des Geistes sehnt, und nicht nach postmoderner Beliebigkeit, um auf das Thema zurück zu kommen. An diesem Vorgang wird auch die Problematik einer Psyschoanalyse deutlich, die nur die physischen und biologischen Grundlagen psychischer Vorgänge in ihre Betrachtungen einbezieht, und nicht die geistige Existenz des Menschen, bzw. diese nur als „Überbau” der Materie interpretiert.

Je nach dem, ob man vom Primat des Geistes oder der Materie ausgeht, wird man daher bei der Betrachtung und Diskussion der einzelnen Themen und Problemfelder der Konferenz auch zu unterschiedlichen Ergebnissen, Forderungen und Perspektiven kommen. Und zwar von den „Problemen der Selbstverwirklichung des Menschen als Einzelner und als Mitglied der Gesellschaft” bis zu den „Perspektiven für die Entwicklung der Bildung im 21. Jahrhundert”.

Horst Beger, Architekt


Copyright © by Horst Beger
Alle Rechte vorbehalten.

Dieses ist ein Artikel der
Weltnetzzeitschrift „Der Lotse”