Heidnische Bauernkunst und ihr geistiger Hintergrund
von Jürgen Funk

 

Ein heute wenig beachteter Zweig der Kultur stellt die Bauernkunst dar. Wer dieses Wort hört, verbindet damit meist ländliche Malerei auf Bauernmöbeln und stellt sich dabei Blumenbilder mannigfaltiger Art auf Schränken und Truhen von „anno dazumal” vor. Die Vorstellung ist nicht verkehrt, jedoch sehr eingeengt. In Wahrheit umfaßt Bauernkunst die gesamte volkstümliche Kunst der ländlichen Bauern- und Handwerkerszene, also z.B. die ursprüngliche Auszier an Hauswänden und Hausbalken, an Türen und Toren, auf Keidung, auf Leder- und Töpferwaren und eben auch auf Möbelstücken. Darüberhinaus hat die Bauernkunst auch Einzug in die großen Städte gehalten, wie dort an den Stuckverzierungen mancher alter Mietshäuser unschwer zu erkennen ist.

Wesentlich an der Bauernkunst sind die verwendeten Bildmotive und Sinnzeichen, die sich in verschiedensten Abwandlungen immer wiederfinden. Diese Kennzeichen sind einigermaßen zahlreich aber umfänglich begrenzt. Vor allem sind sie sehr alt. Bei einigen von ihnen gelangen Herkunftsnachweise bis weit in die vorchristliche Zeit hinein.

Wissenschaftliche Nachforschungen erbrachten, daß gleiche bäuerliche Bildmotive in ganz Europa anzutreffen sind und darüberhinaus auch in Vorderasien bis nach Indien. Deshalb läßt sich vermuten, es könnte sich hierbei um Kulturgut aus der Jungsteinzeit handeln, das sich mit der indogermanischen Wanderung ausbreitete. Auffällig sind auch mancherlei Querverbindungen zu Märchen und Mythen, die sich leicht ziehen lassen.

Daraus erhellt sich, daß die Bauernkunst kein bloßer Zierat ist, sondern in seiner Gesamtheit eine Lebens- und Weltsicht des noch naturverbunden lebenden europäischen Menschentums widerspiegelt.

In einer Zeit des tiefgreifenden geistigen Umbruchs, wie der unsrigen, erscheint es naheliegend, sich auf die Ursprünge des eigenen kulturellen Weges zu besinnen. Damit würde eine Nothilfe geleistet werden, die sich in der europäischen Geschichte in dieser Weise schon mehrfach bewährt hat: Immer dann, wenn in Europa eine kulturelle Strömung in eine Sackgasse geriet, erfolgte eine Rückbesinnung auf Wertvorstellungen einer vorangegangenen Epoche

So geschah es z.B. im 16. Jahrhundert (Renaissance, Zeitalter der Wiedergeburt), in dem an die mittelmeerische Antike angeknüpft wurde. Dadurch erfolgte in Europa eine Abkehr von der eingeengten Weltsicht der Scholastik, die von mittelalterlichen Kirchenoberen gelehrt wurde. Auf diese Weise konnten in Deutschland  - ausgehend von Italien -  Wissenschaft und Kunst neu aufblühen.

Auch heutiger Kultur- und Lebensgestaltung würde ein frischer Wind in Form wesensgemäßer und bewährter Überlieferung gut tun. Die antike Welt der alten Griechen und Römer gäbe dafür wohl nicht mehr genügend her. Warum auch in die Ferne schweifen? Das Gute liegt so nah,  - wenn schon bisweilen in versteckten Winkeln. Hierbei wäre vornehmlich an Denkweisen und Traditionen des schlichten, naturverbundenen Lebens der alten Deutschen und der verwandten Völker in Europa zu denken. Dafür könnte die Bauernkunst eine Eingangstür bieten.

Diese Wahl erscheint aus mehreren Gründen vorteilhaft:

  1. Werke der Bauernkunst sind klar und übersichtlich gestaltet. Dementsprechend ist auch ihre geistige Aussage klar und einprägsam.

  2. Die Bauernkunst besteht aus einer überschaubaren Anzahl von Zeichen, Mustern und Zusammenstellungen von diesen.

  3. Sie ist technisch einfach zu handhaben und eignet sich für Architektur, Malerei, „sakrale” Kunst, Schmuck und als Auszier für handwerkliche Gegenstände aller Art. Sie ist damit überall anwendbar.

  4. Mit ihr lassen sich Aussagen zu allen wichtigen Bereichen des Lebens vornehmen. In überlieferter Anwendung dient sie hauptsächlich der Naturverehrung sowie um dem Wunsch nach Gesundheit, Fruchtbarkeit und Glück Ausdruck zu geben.

  5. Die Ausübung der Bauernkunst bedarf keiner akademischen Ausbildung. Sie ist eben eine Kunst für das Volk.


Die angeführten Punkte beziehen sich auf die Vorteile in der praktischen Anwendung der Kunst. Inwiefern ihr geistiger Gehalt für zukünftiges Denken und Handeln im Gemeinschaftsleben tragfähig sein könnte, ist die weitergehende, entscheidende Frage. Wer hierauf eine Antwort sucht, dem mögen die knappen folgenden Ausführungen hierzu als Anhalt dienen:

Die bäuerliche Kunst ist aus der seelischen Grundhaltung naturverbunden lebender Menschen entstanden. Sie ließe sich als eine Art basisdemokratisches Gewächs betrachten, entstanden aus geistigen Bemühungen vieler Einzelmenschen über Generationen hinfort innerhalb eines Kulturkreises. Demnach ist das gesamte Leben als ein Netzwerk von Beziehungen zu verstehen. Hierin ist das All miteinbezogen. Somit spielen auch Sonne, Mond und Sterne eine wichtige Rolle.

Die Menschen älterer Zeit hatten einen ausgeprägten Sinn für Ordnung. Die Ordnung wurde aus dem Naturgeschehen abgeleitet. Zu dem Zweck wurden Gestirnsbeobachtungsstätten gebaut, um den genauen Verlauf der Gestirne kennenzulernen, unter anderem „Stonehenge” in Südengland, das „Sacellum” der Externsteine bei Detmold und teilweise die Pyramiden. Nach den regelmäßig wiederkehrenden (scheinbaren) Sonnenumläufen erfolgte die Einteilung der Himmelsrichtungen, die Einteilung der Zeit nach Sonne und Mond.

Das Lebensgeschehen ergibt sich nach alter Sicht aus einem Zusammenspiel von Polaritäten. Das auffälligste Polaritätsgeschehen ergibt sich aus Wechselwirkungen zwischen Sonne und Erde. Auf diese Weise entsteht das irdische Leben. Die Sonne wird als die zeugende, die Erde als die empfangende und gebärende Naturkraft betrachtet. Diese Sicht ergibt sich wie von selbst in den nördlichen Breiten, wo durch den Wechsel von Sommer und Winter die lebenspendende Kraft des Sonnenlichtes besonders eindringlich erlebt werden kann.  - Der Mond wurde der Erde als wesenhaft verwandt betrachtet.

Aus der umfassenden Sicht auf das Lebensgeschehen ergibt sich das Verständnis von Leben und Tod. Der Tod wird nicht als ein Unglück oder gar als Strafe betrachtet, sondern als eine „Ruhe im Ur”, als ein Durchgangsstadium zu neuem Leben. Leben und Tod bilden einen immerwährenden Kreislauf (siehe hierzu das Grimm'sche Märchen „Frau Holle”, sinnverwandt der Mutter Erde).

Damit das Leben weitergeht, bedarf es neben dem großen kosmischen Paar Sonne und Erde der vielen kleinen Liebespaare im „Paradiesgarten”. Das Fortsprießen der irdischen Fruchtbarkeit wird in der Bauernkunst durch den Lebensbaum in verschiedenen Abwandlungen dargestellt. Dem wird oft ein Menschenpaar beigesellt, um auf die Einordnung des Menschen in den natürlichen Ablauf von Stirb und Werde hinzuweisen.

Neben dem Ordnungssinn zeigen die altbäuerlichen Menschen ein Verstehen für Gleichgewicht und Gerechtigkeit, die wesentliche Vorbedingung für gütiges Denken und Handeln ist. In der Bauernkunst wird diese Einstellung zunächst durch einen spiegelbildlichen Aufbau der Bilder verdeutlicht. Weiterhin ist zu beachten, daß das Leben sich wechselvoll zeigt und es notwendig ist, alle an einem Geschehen beteiligten Geschöpfe angemessen zu berücksichtigen und zu würdigen, damit im Netzwerk der Kräfte nichts vernachlässigt wird, was Unheil nach sich zöge. Daraus ergibt sich bei manchen Bildern eine reiche Anzahl verschiedenster Wesen: Sonne, Erde, Menschen, Tiere, Pflanzen und Blumen geben sich ein wohlgeordnetes Stelldichein.

Nicht alle Menschen werden mit Glück gesegnet. Die Nornen spinnen das Schicksal für jeden. Nimm es an und mache dein Bestes daraus im Auf und Ab deiner Lebensbahn, heißt es. Und was ist das Beste? Hierüber gab es bei den Altvorderen keinen Zweifel: Gleich ob Mann oder Frau, jeder hat sich nach besten Kräften für das Wohl der (überschaubaren) Gemeinschaft, was in alter Zeit für gewöhnlich die Großfamilie (Sippe) war, einzusetzen. Die Macht des Schicksals wird in der Bauernkunst häufig als Schlangenlinie mit Hoch und Nieder dargestellt.

In dem überlieferten Gestaltungsrahmen ist kein Platz für individualistische Seitensprünge. Jeder hat sich an die vorgegebenen Zeichen und Motive zu halten und deren Grundformen klar erkennbar auszuführen. Spielraum bleibt aber für Abwandlungen in Kleinigkeiten und auch in Grenzen für Zusammenstellungen von Zeichen, sofern es im Rahmen des altbäuerlichen Lebensverständnisses bleibt. Wenn das beachtet wird, ist immer noch viel Platz beim Formgeben nach persönlichem Geschmack.

Grundsätzlich halte ich es für möglich und gangbar, auf die heutige Zeit bezogene Empfindungen und Gedanken mit Hilfe bäuerlicher Sinnbildkunst zu verdeutlichen und dabei auch andere Bestandteile in eine Darstellung mit hineinzusetzen. Das hat selbstredend nur dann Sinn, wenn das Ergebnis in sich stimmig und verständlich ist.

 

Empfehlenswerte Literatur zum Thema:

 

 

Ein Beispiel für Bauernkunst

 

„Lebensbaum mit Sonne, Erde, Sterne und Vogelpaar”
auf einem Wandteller (Æ 29 cm) in blauer Glasurfarbe auf weiß


Die abgebildete Keramik hat weder ein Firmenzeichen noch irgendwelche schriftlichen Hinweise. Ihr Alter ist unbekannt. Sie ist sehr wahrscheinlich im deutschen Kulturraum hergestellt worden. Hierzu wäre anzumerken, daß Bauernkunsts stets ohne Signierung des Schaffenden hergestellt wird und eine Angabe über das Jahr der Herstellung meist nicht erfolgt. Beides ist als belanglos anzusehen, da die Bauernkunst nach gleichbleibend gültigen Regeln und Zeichenvorgaben angefertigt wird. Diese Kunstform ist nichtpersönlich. Sie hat etwas Konstruiertes an sich.

Bauernkunst läßt sich nur verstehen, wenn sie mit den Lebensumständen, der Kultur und dem Selbstverständnis der Menschen in der altbäuerlichen Zeit vor der Christianisierung im Zusammenhang gesehen wird. Die immer wiederkehrenden Zeichen und Bilder der Bauernkunst vermochten einst beim Betrachter Erinnerungen an Natur- und Feiererlebnisse, familiäre Ereignisse und mythische Vorstellungen zu wecken. Auf Letzteres ist besonders Karl von Spieß in seinem Buch „Bauernkunst - ihre Art und ihr Sinn” (Österreichischer Bundesverlag, Wien 1925) eingegangen. Den Lesern sei hiermit die Anregung gegeben, sich mittels Aneignen von Kenntnissen im Verstehen der Bauernkunst zu üben und damit die alte Sichtweise auf Mensch und Natur  - und damit Natur im Menschen -  in sich wachwerden zu lassen.

Das obige Bild. besteht aus zwei Hauptteilen, dem Mittelfeld (Scheibe) und dem Außenfeld (Kranz). Die Scheibe vermittelt den Eindruck des Ruhenden, der Kranz den Eindruck von Drehung. Zunächst sei das Mittelfeld, das die Aufmerksamkeit des Betrachters sogleich auf sich lenkt, näher untersucht.

Kennzeichnend für das Mittelfeld ist sein einfach-symmetrischer Aufbau, wie das bei Bildern dieser Stilrichtung weitgehend üblich ist. Eine senkrechte Achse teilt die Fläche nahezu in spiegelbildliche Hälften. Diese Mittelachse stellt eine Art Gerüstbildner für die Gesamtheit der Einzelglieder auf der Fläche dar. Durch seitlich angesetzte Schrägstriche erhält die Mittelstrebe das Aussehen eines Nadelbaumzweiges. Auf so einfache Weise ist hiermit der Lebensbaum dargestellt.

Der Lebensbaum ist im heidnischen Denken und Empfinden ein Sinnbild für die Lebensfülle in ihrer immerwährenden Daseinskraft. Besonders eindrucksvoll kommt das in der eddischen Sage von der Weltenesche Yggdrasill zum Ausdruck. Adler, Habicht, Hirsche, Eichhörnchen, und Schlange bewohnen diesen Baum, dessen Äste und Wurzeln sich in alle Weltenreiche erstrecken.

Die Kraft des Lebensbaumes wird auch auf das menschliche Geschlecht bezogen. Denn die Menschen gehören ja mit zur Natur. Diese Vorstellung zeigt sich in mehreren Baumverehrungbräuchen, die hauptsächlich bei allgemeinen Festen den Gemeinschaftsgeist und das Familienheil fördern und die Lebensfreude beflügeln.

Dazu dienen der Maibaum, den man(1) umtanzt, und der immergrüne Tannenbaum, der zum Julfest in die gute Stube geholt wird. Auch das bei manchen Festen übliche Schlagen mit einer Rute  - „Stiepen” genannt -  hängt damit zusammen. Dieser Brauch hat den Sinn, die Lebenskraft der Zweige, die gern vom Hasel-Strauch genommen werden, auf den Gestiepten zu übertragen und damit dessen Wohlbefinden zu fördern.

Die gegenständig angesetzten Zweige der Baumfigur im Bild sind als eine Aneinanderreihung von V-Zeichen zu verstehen. Diese werden Sparren genannt. Ein Sparren bedeutet Kind oder Sprößling. Mit dem ganzen Sparrenbaum wird der Wunsch nach Kinderreichtum zum Ausdruck gebracht. Diese Lebensbaumdarstellung hat also mehrfache Bedeutung.

Die Mittelachse fußt auf einem torförmigem Bogen, dem Urdbogen. Er stellt die Pforte dar, die sowohl in das Totenreich führt als auch auf dem umgekehrten Weg die Neugeborenen in das Leben entläßt. Hinter dem Urdbogen liegt das Reich der Erdmutter (unsere Göttin Freya  - Anm. d. Red.), die im Märchen Frau Holle genannt wird. Sie beherbergt die Verstorbenen ebenso wie die Ungeborenen. Diese Sichtweise entspricht dem in der Ökologie beschriebenen "Kreislauf der Stoffe" auf materieller und energetischer Grundlage wobei der Mutterboden mit seinem Bodenleben die Auflösung alles Abgestorbenen bewirkt. Am Ende steht dessen Zerteilung bis hin zu den „Urbausteinen” (Ionen, Aminosäuren, Chelate u.a.m.) aus denen wieder neues Leben aufgebaut werden kann.

Somit steht der Erdbogen für die Verjüngungs- und Vermehrungskraft der Mutter Erde, die als Planet unserer Sonne zum Makrokosmos gehört. Nachgeordnet bezieht sich der Urdbogen auf alle weiblichen Wesen, die auf der Erde in Mitgard leben (Mikrokosmos). Demgemäß stellte man  - wie aus Friesland überliefert -  bei bevorstehender Geburt eines Kindes neben die Tür des Hauses ein sechsspeichiges Wagenrad auf, um der Frau und Familie eine gesunde Geburt und dem Kind ein glückliches Leben zu wünschen. Der Sechsstern ist gleichzeitig die Hagal-Rune, die Werden, Sein und Vergehen einschließt.

Als Gegenpol (richtiger: Ergänzung, nämlich zu einem Ganzen  - Anm. d. Red.) zu dem Bereich Erde-Weib-Fruchtbarkeit unter dem Lebensbaum erscheint über diesem die Sonne (beherrscht von unserem lichten Gotte Yngvifreyr, Bruder Freyas  - Anm. d. Red.) als zeugende und das Leben immer wieder mit Energie auffüllende Lichtkraft, hier als Himmelsauge darstellt. Aus dem Zusammenwirken beider Seiten, des makrokosmischen Paares Sonne und Erde, ergibt sich das irdische Leben in seiner ganzheitlichen (harmonischen) Vielfalt.

Dazu gehört auch das menschlich-bäuerliche Dasein, das hier vermittels zweier Herzen mit Rautenmuster im Bilde erscheint. Allgemein ist das Herz zunächst ein Mutter-Erde-Zeichen, desgleichen die Raute. Das Rautenmuster, gebildet aus zwei schrägen Strichlagen und manchmal noch mit Punkten versehen, kann verwendet werden, um das Herz-Zeichen auszufüllen, um somit den Reichtum der Lebewelt in Mitgard zu betonen. Oft bezieht sich ein Rautenmuster schwerpunktmäßig auf den bäuerlichen Acker, der hierzulande bis vor etwa 150 Jahren teilweise noch mit dem Hakenpflug  - dem Vorläufer des Wendepfluges -  kreuzweise bearbeitet wurde, wobei dann selbstverständlich ein Rautenmuster bzw. Quadratmuster entstand. Auch die bayerische Fahne mit ihrem blau-weißen Rautenmuster verweist wesentlich auf das bäuerliche Land und damit auf das kulturelle Selbstverständnis der Bayern. Der Gesichtspunkt des bäuerlichen Ackers steht auch hier im Vordergrund, was aus dem Folgenden noch deutlich wird.

Die Zeichengruppe um die senkrechte Achse wird von einer angedeuteten spitzpyramidalen Figur umfaßt, die aus vier Kleinkreisen und dem Sonnenzeichen gebildet wird. Es läßt sich hierbei die Bedeutung eines Menhirs (bretonisch: men=Stein, hir=lang) vermuten. Menhire sind rohe Steinblöcke von meist 2 bis 3 m Höhe, die in der Jungstein- und Bronzezeit im Zusammenhang mit einem Totenkult errichtet wurden. Davon ausgehend wäre auf die Bedeutung von Ahnenverehrung(2) zu schließen. Es sei darauf hingewiesen, daß auch eine Verbindung zu den formähnlichen altagyptischen Obelisken gezogen werden kann. Jene dienten der Sonnenverehrung. Möglicherweise hing einst beides miteinander zusammen.

Die beiden Vögel, die sich links und rechts des Lebensbaumes gegenüberstehen, sind als nichts anderes als das bäuerliche Paar anzusehen. Beide Partner zeigen sich gegenseitig einen Zweig vor. Diese Geste läßt sich sowohl als ein Bekenntnis zum Familienfrieden als auch zur Fortzeugung der Sippe verstehen. (3)

Beide Vögel stehen über einer Doppelspirale, die die auf- und absteigende Sonnenbahn im Jahreslauf wiedergibt. Die Punkte an den Linien zeigen Sonnenorte in Folge. Damit wird auf den grundlegenden Zusammenhang des bäuerlichen Lebens zum jahreszeitlichen Rhythmus der Natur hingewiesen.

Die darunter angeordneten Herzen mit dem Rautenmuster bezeugen die beiderseitige bäuerliche Herkunft des Paares (siehe oben). Das verbindende Rechtkreuz verweist auf die Sonnenkraft, was durch die vier „Sonnenpunkte” zwischen den Achsen bestärkt wird. Dieses Zeichen ist einst aus den gedachten Verbindungslinien der Sonnenauf- und -untergangspunkte am Himmelsrand zur Zeit der Mittwinter- und Mittsommertage sowie der Tag- und Nachtgleichen entstanden. Derartige Verhältnissse finden sich im Polarkreisgebiet, den ältesten Wohnsitzen der Germanen während des bronzezeitlichen Warmklimas. Beim sogenannten Kugelkreuz sind an den Enden der Kreuzlinien die entsprechenden Sonnenstandort-Kreise noch eingezeichnet. Diese können staatdessen auch in den Winkeln zwischen den Achsen eingetragen werden, um das Rechtkreuz als ein Sonnenkreuz zu kennzeichnen. Hier finden sich wegen Platzmangels an Stelle der Kreise lediglich Punkte. (4)  - Die Sonne, der im hohen Norden höchste Verehrung bezeugt wurde, ist für die Menschen dort der Inbegriff göttlichen Schaffens und Wirkens geworden. Aufschlußreich ist hierzu der Bericht des Prokop von Cäsarea (byzantinischer Geschichtsschreiber, geboren um 490, gestorben nach 562 d.Zr.) über ein Sonnenverehrungsfest der Nordleute in seiner Abhandlung „Die Gotenkriege”. Indem hier im Bilde die bäuerliche Ehe zum Rechtkreuz in Beziehung gesetzt ist, zeigt sich darin die Aufffassung, daß diese menschliche Einrichtung mit den göttlichen Kräften zusammenklingt und übereinstimmt. Möglicherweise ist mit der „Anbindung” des bäuerlichen Landes an das Rechtkreuz gleichzeitig darauf verwiesen, daß es sich um freies Land handelt, das einst als Sonnenlehen in Besitz genommen wurde. (5)


Die verschlungenen Linien über den Vögeln sind vermutlich als die Bahnen der Wandelsterne (Planeten) zu verstehen. Die dazugesetzten Punkte könnten dann als verschiedene Ortungen auf der Sternenbahn gedeutet werden. Wandelsterne und ihre Stellungen am Himmel wurden und werden oftmals mit den Schicksalsläufen der Menschen in Verbindung gebracht.

Der Ring, der das Mittelfeld des Tellers umschließt, bezeugt die gegenseitige Verbundenheit des Paares und damit den Ehestand. Im Ringfeld sind zwei Zeichen im Wechsel zu betrachten. Erstens die Hagal-Rune als Lebenszeichen, das Werden, Sein und Vergehen umfassend, und zweitens ein besonderes Zeichen mit einer Zick-zack-Linie in der Mitte. Im Zusammenhang betrachtet ist diese Linie naheliegend als das Auf und Ab der Lebensbahn zu deuten. Die daran angesetzten Ringhörner zeigen einerseits Entrollung und damit aufsteigende Entwicklung, andererseits Einrollung und damit die absteigende Phase der Lebensbahn. Insgesamt läßt sich der Zeichenkranz als das Kommen und Gehen der Geschlechter in einem ewigen Kreislauf verstehen.

 

Fußnoten:

(1)   Das Wort „man” (althochdeutsch: man) entstand aus dem Wort „Mann”, gleichbedeutend mit Mensch, also beide Geschlechter umfassend, was noch aus den Wörtern „jemand” und „niemand” hervorgeht, sowie aus manchen Redewendungen, wie das „Das tut man nicht.”, womit hier alle Menschen einer Kulturgemeinschaft gemeint sind. Es erübrigt sich darum, bei Gebrauch des Wortes „man” etwa „man/frau” zu schreiben, wie es neuerdings von einigen Zeitgenossen getan wird. Folgerichtig gedacht müßte ein derartiges „Doppelwort” auch so ausgesprochen werden, - wer möchte das schon?

In diesem Zusammenhang soll hier erwähnt sein, daß das ursprüngliche Wort für „Mann” in seiner heutigen Bedeutung „Kerl” oder „Karl” lautete, so z.B. im Althochdeutschen und im Altnordischen. Dieser alte Wörtergebrauch erscheint mir sinnvoller als der heutige, der „Kerl” und „Karl” als Sonderfälle benutzt. Möglicherweise ließe sich zum alten Verständnis für „Kerl” oder „Karl” zurückfinden, womit das Wort „Mann” dann als altmodisch in den Hintergrund treten könnte. (Siehe hierzu z.B.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Akademie-Verlag Berlin, 1989.)

(2)   Die Verbindung der Säule mit der Ahnenverehrung fand sich in norwegischen Häusern bis in das 19. Jahrhundert in Form von menschengestaltigen Säulen, die als Ahnenbilder aufzufassen sind. Siehe: Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Walter de Gruiter & Co., Berlin 1970, Band II, Seite 390.

(3)   Es sind mehrere ähnliche Darstellungen bekannt, davon eine aus Pomehrendorf, Kreis Elbing. Hier ist ein Vogel zu sehen, der einen Zweig in Form einer Lebensrune (auch Manrune, Y) im Schnabel trägt und auf einer Doppelspirale sitzt. In dem Fall ist letztgenanntes Zeichen als Odilsrune gedeutet worden. (Siehe Oskar von Zaborsky-Wahlstätten, Urväter Erbe in deutscher Volkskunst, Faksimile-Verlag, D-2800 Bremen 1, Postfach 10 14 20, 1983, Seite 95 und Abbildung 196.) Jene hat den Sinn "bäuerliches Erbe", was für das Wandteller-Bild ebenfalls passen würde. Die Doppelspirale als Wiedergabe des Sonnenlaufes durch das Jahr ist ohne Zweifel die ältere Bedeutung.

(4)   Siehe hierzu: Oskar von Zaborsky-Wahlstätten, Urväter Erbe in deutscher Volkskunst, Faksimile-Verlag, D-2800 Bremen 1, Postfach 10 14 20, 1983, Seite 20-25.

SUP>(5)   Johannes Kleinpaul, Das deutsche Dorf   - Rückblicke in die Vergangenheit unserer Heimat und unseres Volkes, Volksvereins-Verlag, Mönchen-Gladbach 1921, 2. Kapitel: Sonnenlehen - Gotteslehen.


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Dieses ist ein Artikel der
Weltnetzzeitschrift „Der Lotse”